Nova

Klassiker der Philosophie zeichnen sich dadurch aus, daß sie immer wieder neu gelesen werden, weil sich an ihnen und durch sie etwas zeigt, das auch noch unter völlig gewandelten Bedingungen von Belang ist. Die kleine Schrift des Aristoteles über die Dichtkunst ist so ein Text, der über die Jahrtausende gewirkt hat und immer wieder dazu einlädt, die Fragen zu diskutieren, die Aristoteles mit seiner Abhandlung aufgeworfen hat. Nachdem erst 2008 der gewaltige Kommentar zur Poetik im Rahmen der deutschen Aristoteles-Ausgabe von Arbogast Schmitt publiziert wurde und auch Otfried Höffe, der dieses Werk in der FAZ sehr lobte, ebenfalls einen kooperativen Kommentar in seiner im Akademie Verlag erscheinenden Reihe Klassiker auslegen vorgelegt hat, nimmt man mit Interesse einen Band aus einem ganz anderen Stall zur Hand. Der Philosoph und Foucault-Übersetzer Walter Seitter, von dem es auf der Innenseite des vorderen Buchumschlags etwas kryptisch und nur bedingt informativ heißt, „Walter Seitter lebt in Wien; manchmal reist er nach Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien oder Griechenland“, bietet den (unvollständigen) Bericht einer gemeinschaftlichen Lektüre der Poetik, die möglicherweise (wir hoffen es!) durch einen zweiten Band ergänzt werden soll. Jedenfalls bietet das Buch damit so etwas wie das Protokoll einer aktualisierenden Lektüre, die sich aber auf eine genaue Erfassung des bei Aristoteles Gesagten und Gemeinten zu stützen sucht. Dabei bezieht er auch immer wieder die neuere Aristoteles-Literatur zur Poetik mit ein. Er scheut auch nicht davor zurück, Lesefrüchte aus anderen Gebieten einzubeziehen bzw. manchmal Thesen zu referieren, die er nur sekundär aus diversen französischen Besprechungsarti keln kennt – so wie eben die tatsächliche kulturwissenschaftliche Praxis aussehen dürfte. Er kommt gelegentlich auf solche Einschübe zurück, die sich zu kulturanthropologischen Betrachtungen weiten, um dann im nächsten Abschnitt wieder den mikroskopischen Blick auf Satzbau und Wortverwendung oder Übersetzungsfragen zu wenden. Gerade in dieser doppelten Betrachtungsweise – philologisch am griechischen Text orientiert, aber mit philosophischem Interesse – liegt die Stärke und eigentümliche Frische des Buches von Seitter, das so zu mehr als einem bloßen Protokoll gemeinsamer Poetik-Lektüre wird.

Seitters lebendig geschriebenes Buch ist Mitphilosophieren im besten Sinne und lohnt daher das Mitlesen der hier gebotenen Lektüren des Aristoteles. Auch wenn Seitter nicht darauf zielt, den Text mit anderen Texten des griechischen Philosophen zu kontextualisieren oder literaturgeschichtliche Betrachtungen anzustellen (S. 15), so ist doch sein Vorgehen in heuristischer Hinsicht allemal lobenswert, das er folgendermaßen umschreibt: „Wir ziehen lesend nur den vorliegenden Text auseinander, indem wir wortwörtlich lesen. ‚Wortwörtlich’ – diese insistierende, penetrante Formulierung bezeichnet sehr gut unsere Zugangsweise.“ (S. 15 - 16) Diese Form des close reading allerdings ist nicht Selbstzweck, sondern dient als philologisches Mittel, sich ins Philosophieren zu begeben. Man könnte sagen, Seitters Aristoteles-Lektüren versuchen das vorzuführen, was Nietzsche als "langsames Lesen" verstand, das die Philologen zu lehren hätten. Fortsetzung erwünscht.

Till Kinzel