Erich Voegelin

 

                      Individuum und Chaos

 

 

 

Vorbemerkung: Der hier publizierte Text wurde vor einigen Jahren in einem Konvolut gefunden, das Erich Voegelins Doktorarbeit aus dem Jahr 1922 enthielt. Zweifellos gehört er nicht zu dieser Arbeit, welche den Titel Wechselwirkung und Gezweiung trug und die seinerzeitige sozialtheoretische Literatur zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sichtete. Der kleine in einem einzigen Zug formulierte Text greift einen Punkt dieser Arbeit, die Ich-Analyse, auf und formuliert ihn mit essayistischer Unbefangenheit neu. Er stammt vermutlich aus den Jahren 1924 bis 1927, als sich Voegelin zu Studienzwecken in den USA und in Frankreich aufhielt. Mit dem Text soll dem Werk von Voegelin ein ziemlich fremdartig anmutendes Stück hinzugefügt, zugefügt und beinahe entgegengesetzt werden: ein Stück aus der Konjunktur der letzten Zwanzigerjahre – zwischen Phänomenologie, Ontologie und Menschenphysik (Plessner, Hartmann, Heider). (W. S.)

 

 

Die eigentümliche traditionelle Schwierigkeit in der Gegenüberstellung des Individuums und der Gesellschaft liegt in der Annahme dieser beiden Einheiten als möglicher Termini einer einfachen Relation. Diese Annahme drängt sich allerdings dem unreflektierten Denken sehr kräftig auf, denn die körperliche Einheit des Individuums und der organisierte Machtapparat der Gesellschaft (der Staat) sind antagonistische Zusammenhänge von scheinbarer Unvermeidlichkeit und Endgültigkeit. Zum größten Teil auf der handgreiflichen Realität dieser Einheiten dürfte die Diskussion der gesellschaftswissenschaftlichen Grundfrage beruhen. Damit aber wird das Problem aus der unmittelbaren Wirklichkeitsanalyse in eine Sphäre rationaler Konstruktion verschoben, die sich in der Terminologie von Individuum und Gemeinschaft, Ganzes und Teil, Einzel- und Kollektivseele bewegt, ohne dass einer der Beteiligten mit nur angenäherter Exaktheit über diese Termini mehr zu sagen wüsste, als dass beide verschieden seien und zwischen ihnen eine Relation bestünde. Ob diese Relation vom Individuum zur Gemeinschaft läuft, oder umgekehrt, oder ob sie eine Korrelation ist, - über diese formale Frage herrschen schon so viele Meinungen wie es apriorische Möglichkeiten dafür gibt.

 

Um zu einer brauchbaren Problemstellung zu kommen, seien nun einige Annahmen zusammengestellt, die sich aus unmittelbarer Beobachtung ohne Dazwischenkunft einer Konstruktion ergeben. Auf irgendeine weiter nicht ableitbare Weise ist ein Individuum ein Sinnzentrum. Es gibt Punkte, auf die Handlungen, Gefühle, Wahrnehmungen, Gedanken als auf eine Einheit bezogen werden – und solche Punkte sollen Individuen heissen. Zur Eigentümlichkeit dieser Punkte gehört, dass sie nicht rationale Ordnungen darstellen, von denen sich unmittelbar und eindeutig alles auf sie bezogene Geschehen gedeutet werden könnte, sondern anscheinend nur ein Teil eines solchen Individuums ist ein rationales Schema, während – der vielleicht überwiegende und wichtigere Teil – sich in ein unklares, mehr geahntes als ausgedrücktes, halb oder ganz unbewusstes Feld verliert, das an den rationalen Klarheitspunkt sich anlagert. Wenn man den Begriff des Systems einführen wollte, müsste man sagen, dass ein Individuum kein System sei, sondern ein Stück Geistesmasse, von systematischen Strukturen durchschossen: ein Stück chaotischen Seins, in das ein ordnender Lichtstrahl fällt, aber so, dass der Rand des belichteten Feldes allmählich in das Chaos zurücksinkt, und das helle Feld selbst den Stempel des Ausschnittes, des Unfertigen trägt. In das Klarheitsfeld selbst hinein fällt der Schatten der nicht-strukturierten Umgebung, so dass der Begriff „Klarheit“ immer mit dem Bewusstsein seines Gradcharakters gebraucht werden muss. Die rational-klaren Punkte im Individuum sind nur die höchsten Spitzen, welche die chaotische Masse aus sich heraustreibt. Um durch ein Beispiel zu verdeutlichen: die einzelne Wirtschaftshandlung eines modernen Menschen kann rational durchaus klar sein – aber im Grund dieser Handlung liegt die Welt der Werte, welche die Idee der modernen Wirtschaft tragen, und diese verständlichen Werte mitsamt ihren Rechtfertigungstheorien wachsen aus einem unbegrenzten Feld von möglichen Wertwelten, in das sie prinzipiell in jedem Augenblick zurücksinken können, um anderen Möglichkeiten das rationale Wirklichkeitsfeld zu räumen.

 

Dieses Beispiel geht über die rein statischen Begriffe des Klarheitsfeldes und der Umgebung von abnehmender Verstehbarkeit hinaus, indem es andeutet, dass die jeweiligen Inhalte des Klarheitsfeldes – eben wegen ihrer Verschmolzenheit mit einer chaotischen Umgebung – durchaus labil sind; sie werden ständig bedroht von den andrängenden Möglichkeiten; das Individuum ist kein ruhender Punkt, sondern hat mindestens die Potenz zur Veränderung seiner Struktur. Die Bedeutung dieser Eigenschaft wird verständlich, wenn man die Spannung bedenkt, die sie in dem Individuum erzeugt. So sehr das Individuum – wenn man von metaphyischen Konstruktionen absieht – eine zufällige Weltformung und Sinngebung ist, so sehr beharrt es mit aller Zähigkeit auf der Erhaltung seiner selbst im Kampf gegen die Bedrohung durch das Chaos; jedes philosophische System, das auf die rationale Fundierung einer Lebenshaltung abziehlt, ist ein Versuch, der Existenz des Individuums seinen unanfechtbaren Sinn und Wert zu garantieren. Die Gegenüberstellung von Individuum und Chaos aber ist nur ein Bild, das über die Unmittelbarkeit und Gefahr der Spannung vielleicht hinwegtäuschen kann; denn das Individuum ist ja nicht das geschlossene System, das einer Welt gegenübersteht; sondern gerade die Zufälligkeit des individuellen Sinnzentrums impliziert eine Sinnlosigkeit, die durch metaphysische Deutungen paralysiert werden muss, um das Leben erträglich zu machen. Das Individuum ist nicht nur Individuum: ein Moment seiner Struktur ist das Chaos, dem es nicht gegenübersteht sondern  - in das verschlungen zu sein – sein Schicksal ausmacht. Das, was wir Individuum nennen, ist nur die sinngebende Komponente in einem Gebilde, das ebenso konstitutionell die Sinnlosigkeit enthält; gewöhnlich allerdings wird das totale Sinn-Chaos-Gebilde als Individuum oder Sinn bezeichnet und diese verborgene Dialektik des Begriffes trägt die Hauptschuld an der Undurchsichtigkeit der Probleme. Eben dieses Problem reduzierte Simmel auf seinen philosophischen Gehalt, als er sagte, die auszeichnende Eigentümlichkeit des Lebens sei die Immanenz seiner Transzendenz. Ob man sagt, das Individuum zeige die Tendenz, in das Chaos zu transzendieren oder das Chaos sei dem Individuum immanent – im Grund handelt es sich um die sprachlich niemals adäquat ausdrückbare Sucht, die verstehbare Einheit an die Stelle der irrationalen und bedrohlichen Mannigfaltigkeit zu setzen, in der das Verstehbare doch nur ein Element ist.

 

Die Tendenz, das zusammengesetze Individuum-Chaos-Gebilde nach der einen seiner Komponenten zu nominieren, deutet darauf hin, dass die Relation der Termini nicht symmetrisch ist, sondern eine Richtung hat: und zwar die vom Individuum zum Chaos. Das Kontinuum von Zuständen, als welches sich das „Individuum“ präsentiert, ist nicht eine gesetzlose Folge von Strukturbildungen im Chaos, sondern ein Zusammenhang, der von einem jeweiligen Strukturpunkt zu einem folgenden unbekannten führt, so dass eine Beziehung zwischen ihnen besteht, die z. B. Bergson als die Fortdauer der Vergangenheit im Gegenwartspunkt beschreibt und die – in metaphysischer Transposition – in der deutschen humanistischen Philosophie als die kontinuierliche Durchdringung der Welt mit der Vernunft erscheint. Das Individuum wird hier als eine wachsende Masse von dem Chaos abgerungener Rationalität gedeutet; es steht unter der Kategorie des Wachstums – an Intensität und der Veränderung der damit verknüpften extensiven Lagen. Typische Lebenslagen wie „Sturm und Drang“, „geistige Reife“, „Weisheit des Alters“; oder – konstruktiv durchsetzte – Typen wie „Naivität“, „skeptisches Bewusstein“, „Abgeklärtheit“, oder der Fortschritt in Schichten wie „unmittelbarer Erlebniseindruck“, „seelische“ oder „geistige“ Durchdringung markieren Intensitätsdifferenzen, die in ihrem Ansteigen keineswegs immer mit einer Ausdehnung der Erfahrungsbreite zusammengehen müssen, ja sogar eine bewusste Verengerung suchen können – in dem Sinn des Satzes: dass man mehr als genug wissen muss, um zu wissen, dass es genug  - und vielleicht sogar mehr als nötig – ist.

 

Wenn alle Individuen gleich wären, d. h. wenn es a priori nur ein mögliches Individuum (wenn auch in mehreren Exemplaren) gäbe, das sich zwangsläufig entwickeln muß, dann bestünde das einzige Problem des individuellen Wachstums in der richtigen Aufeinanderfolge der einzelnen Zustände des Kontinuums. Da aber tatsächlich jedes Individuum ein einziges ist, mit jedem anderen in einem letzten Grund unvergleichbar, besteht an jedem Punkt des Kontinuums die Gefahr, aus dem jeweils gegebenen Individuum „auszubrechen“ und in andere Rationalisierungsmöglichkeiten des Chaos überzuspringen; die Möglichkeit, das Individuum zu verlieren und ein anderes zu werden. (Umgekehrt: die Doppelgängerangst!) Die unsymmetrische Relation des Individuums zum Chaos hat daher zwei Formen: die positive der Assimilation des Chaos in das Individuum, um dieses zu entfalten und zu intensivieren; die negative: das Individuum vor den Möglichkeiten des Chaos zu schützen.

 

Beide werden auf das glücklichste erfüllt durch die Beziehung zu anderen Individuen – (die erst auf Grund dieser Analyse verständlich werden kann.) Denn das Individuum kann entsprechend seinem Doppelgehalt von Sinn und Chaos und seiner konservativ-expansiven Doppelfunktion im anderen Individuum das Werkzeug finden, um in das Chaos weiter vorzudringen, ebenso wie den Schutz gegen ein solches Unternehmen. Das andere Individuum repräsentiert – wegen seiner Einzigkeit – auf jeden Fall ein Stück Chaos für das erste, aber dieses Stück kann von so verwandtem Charakter sein, dass mehr oder weniger starke periphere Berührungen der Art möglich sind, dass das eine für das andere – oder beide wechselseitig – gerade solche Chaosfetzen einander entgegenbringen, welche der Expansion in die nächstfolgenden Zustände des Kontinuums günstig sind. (Als klassisches Beispiel: die Bedeutung für Goethe von Schillers Bemerkung, dass die Urpflanze keine Erfahrung, sondern eine Idee sei.) Die positive Beziehung zwischen Individuen ist die wichtigste – vielleicht die einzige mögliche – Form der Assimilation des Chaos, weil in der Form des „anderen Individuums“ das Chaos nicht in der tötenden Fülle seiner Möglichkeiten auftritt, (die es in uns selbst hat), sondern schon in rationaler Fassbarkeit, in einer Gestalt, die es auf eine Ebene mit der Individuum-Seite in uns, dem Sinn, bringt. Im „Ich“ besitzen wir nur das „chaotische Chaos“, der „Andere“ ist das „rationale Chaos“ – und so ein Betrug der Unendlichkeit an sich selbst – denn erst dass sie sich in die Mannigfaltigkeit finiter Individuen ausgiesst, ermöglicht es diesen Individuen, die Unendlichkeit – in der sie verloren wären – zu assimilieren. – Dass zwei Individuen in eine positive Beziehung treten können, setzt nicht notwendig voraus, dass sie in der Stuktur ihres gesamten Kontinuums einander verwandt sind, sondern nur, dass sie in dem gegebenen Punkt einander berühren. Sie können zwei Kurven sein, die sich begegnen, um für immer auseinander zu laufen.

 

Ebenso bedeutsam ist die andere, die negative, Beziehung. In ihr sucht das Individuum im „Anderen“ nicht das Chaos, sondern gerade das sich selber Gleiche. Der Ton liegt hier auf der Verwandtschaft der Individuen, die verhindern soll, dass nicht-assimilierbares Chaos an das Individuum herantritt. Die Erscheinungsweise dieser Beziehung rangiert von der Deckung und Sicherung durch die Masse vor allem, was über das zufällige individuelle Niveau hinausgeht, bis zu den hochkomplexen Gemeinschaften vom Typus der Nation, die ein Gewebe von individuellen Strukturen verwandter Art darstellen im entschiedenen Gegensatz zu anderen zwar gleich wertvollen, aber im Prinzip anders aufgebauten Ausschnitten aus dem Chaos.