Sektion Ästhetik
1998/99

Michael Eckardt Die Suche nach dem "Abgrund".

Ein heraldischer Blick auf Velázquez’ Las Meninas

Gerhard Grössing Zwischen wortlosen Bedeutungen und bedeutungslosen Worten.

Zur Poetik Peter Handkes aus naturwissenschaftlicher Perspektive

Willi Donner Sozialversicherung und Vorsorgestaat
Sigrid Wadauer Bewanderte Schreiber.

Mobilität und der Raum der Autobiographik

Lucas Cejpek Biographie-Erzeugungen
Thomas Bernhard: Ein Denken im Dürftigen?
Peter Moeschl Die Einschreibung des Körpers.

Leibliches Deuten in der Entgegnung von Sprache und Körper

Wilfried Gärtner Die Abschaffung des Opfers im Christentum
W. Ernst und C. Vismann (Hg.) Buchpräsentation: Geschichtskörper

Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz

Harald Strohm Nietzsche und Zarathustra.

Nietzsches kritische und komödiantische Reflexion auf den iranischen Licht-Finsternis-Dualismus

Nietzsche und Zarathustra.

Montag, 19. Oktober 1998: 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien

Nietzsches kritische und komödiantische Reflexion auf den iranischen Licht-Finsternis-Dualismus

Der altiranische Prophet Zoroaster=Zerdusht=Zarathustra (ca. 1000 v. Chr.) lehrte eine linear-eschatologische Kosmologie sowie einen schroffen Gut-Böse-Dualismus, mithin das pure Gegenteil von Nietzsches "ewiger Wiederkehr des Gleichen" und seiner Antimoral des "Jenseits von Gut und Böse". - Sollte sich gerade Nietzsche, der Altphilologe und Freund Paul Deussens, Jacob Burckhards und Erwin Rohdes mit dem Zitieren des persischen Propheten in "Also sprach Zarathustra" vergriffen haben? Nachdem in diesem Sinne mißverstanden, stellte Nietzsche einige Jahre später, in "Ecce homo", klar:

Man hat mich nicht gefragt, man hätte mich fragen sollen, was gerade in meinem Munde, im Munde des ersten Immoralisten, der Name Zarathustra bedeutet: denn was die ungeheure Einzigkeit jenes Persers in der Geschichte ausmacht, ist gerade dazu das Gegenteil... Zarathustra schuf diesen Irrtum, die Moral...

Warum also wählte Nietzsche den fernen Propheten zum Titelhelden und zur Identifikationsfigur? - Der Vortrag versucht eine Klärung mithilfe der drei Sonden: Altorientalistik, immanente Nietzsche-Exegese und moderne Psychose-Theorie.

Buchpräsentation: Geschichtskörper

Montag, 9. November 1998: 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien

Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz (München 1998)

Nach Tumult Schriften zur Verkehrswissenschaft: Ernst Hartwig Kantorowicz. Geschichtsschreiber (Wien 1992) und R. L. Benson und J. Fried: Ernst Kantorowicz (Stuttgart 1997) ist nunmehr innerhalb weniger Jahre eine dritte Publikation erschienen, die die Frage nach Kontinuität bzw. bleibender Aktualität des Historikers stellt, welcher 1927 mit seinem Kaiser Friedrich der Zweite zu frühem aber verfänglichem Ruhm gelangt war. Zweifellos hat Kantorowicz aufgrund der politischen Erfahrungen, die er in Deutschland und in Amerika machen mußte und durfte, seine politische Einstellung modifiziert. Ebenso sicher ist, daß er seine wissenschaftsmethodische aber auch wissenschaftspolitische Orientierung im wesentlichen gewahrt hat. Seine wissenschaftspolitische Standhaftigkeit hat er unter Beweis gestellt, als ihn 1949 die Universität von Berkely zu einem Spezialeid zwingen wollte, worin Kantorowicz einen Eingriff in die Souveränität des Gelehrten erblickte. Zu seiner bleibenden wissenschaftsmethodischen Orientierung gehört das Festhalten an der Spannung zwischen der "poetischen" Freiheit des Wissenschaftlers und seiner Verwiesenheit auf die "Materialien".

Die Abschaffung des Opfers im Christentum

Montag, 23. November 1998: 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien

"Man siehet daraus, warum man sich einbildete, daß die Aufrechterhaltung der Mysterien von der größten Wichtigkeit für das menschliche Geschlecht sey. Man siehet daraus, warum alle Mysterien über dies ein astronomisches Ceremoniell hatten; denn es nannte sich wirklich bey den Ceremonien einer der Priester, der Schöpfer der Welt, ein anderer nannte sich Sonne, ein dritter spielte die Rolle des Mondes. In den Mysterien des Mythras bei den Persern, führten die verschiedenen Classen der Geweiheten die Namen von den Zeichen des Zodiacus, und von den verschiedenen Constellationen des Himmels."
Nicolas-Antoine Boulanger: Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Altertum: Oder Kritische Untersuchung der vornehmsten Meynungen, Cereominien und Einrichtungen der verschiedenen Völker des Erdbodens in Religions- und bürgerlichen Sachen (Greifswald 1767): 232.
Die Einschreibung des Körpers

Montag, 14. Dezember 1998: 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien

Leibliches Deuten in der Entgegnung von Sprache und Körper

Bekanntlich wird der Körper von seiten des Strukturalismus als ein leerer Ort angesehen, als ein Niemandsland, in das die Sprache ihre Texte einschreibt. Die verschiedenen phänomenologischen Strömungen behaupten dagegen eine semantische Eigenaktivität des Körpers. Zum Teil wird von ihnen auch darauf hingewiesen, daß der semantische Aspekt erst nach Rekonstruktion des Leibes aus der von Platon vollzogenen und bis heute aktuellen Körper-Seele-Dichotomie erfaßbar wird. Die Betonung der archaischen Leiberfahrung bringt dabei die Proponenten dieses Denkens in eine gefährliche Nähe zur Esoterik.- Kann demgegenüber aber der Strukturalismus die außersprachlichen Aspekte der Sprache und ihrer Beziehung zur Leiblichkeit hinreichend artikulieren? Kann etwa von ihm die "ganzkörperliche" Erfahrung gegenüber der situativ distanzierten Erkenntnis mitthematisiert werden?
Die vorliegende Arbeit versucht, diese Problematik anhand der sich auf die Selbstorganisation stützenden neurophysiologischen Forschung sowie im Anschluß an verschiedene andere aktuelle psychologische und philosophische Positionen zu entwickeln. Unter diesem Aspekt sollen die grundlegenden Fragen Wie kommt die Sprache in den Körper? Wie wird der Körper zu Sprache? neu formuliert und einer Antwort näher gebracht werden.

Thomas Bernhard:
Ein Denken im Dürftigen?

Montag, 25. Jänner 1999: 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien

Reinhold Knoll: Ein Nestroy für unsere Gesellschaft?
Helmut Kohlenberger: T. B. im Abgrund
Meinhard Rauchensteiner: Morphologie der Monstren
Walter Seitter: Existenzpolitik
Gemma Salem: Improvisierter Dialog

"Aber unser Volk hat schon immer unter seiner absoluten Geistesschwäche gelitten ..., welche von der katholischen Kirche ausgenützt worden ist wie in keinem anderen Land in Europa, selbst in Deutschland nicht, wo sich ein gewisser freier, eigener Geist bis heute erhalten hat ... Der Katholizismus ist daran schuld, daß es in Österreich so viele Jahrhunderte keine Philosophen und also überhaupt kein philosophisches Denken und dadurch auch keine Philosophie gegeben hat." Thomas Bernhard: Die Auslöschung

Biographie-Erzeugungen

Montag, 22. März 1999: 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien

Am 14. März 1994 hat Lucas Cejpek sein Romanprojekt "Ihr Wunsch" in der Lacan-Schule (Sektion Ästhetik) vorgestellt. Der "Gesellschaftsroman" in 50 repräsentativen Personenportraits ist 1996 erschienen. Im letzten Jahr folgte eine "Selbstbeschreibung" des Autors bei der Arbeit an diesem Österreichroman, die wieder exemplarisch ausgefallen ist. Felix Philipp Ingold hat in seiner Besprechung der 16.000 Kilometer Selbstbeschreibung für die Neue Züricher Zeitung "das zum Robotbild verallgemeinerte Konterfei eines heutigen mitteleuropäischen, heterosexuellen, aufgeklärten, religiös indifferenten, politisch gut informierten und literarisch höchst versierten Autors aufscheinen" gesehen. Lucas Cejpek wird beide Bücher vorstellen und ihre methodischen Voraussetzungen zur Diskussion stellen.
Bewanderte Schreiber. Mobilität und der Raum der Autobiographik

Montag, 12. April 1999: 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien

Reisen. Wandern. Vagabundage. Jede Praktik ist auch eine Deutung. Jede will ihre Deutung durchsetzen. Dies gelingt bekanntermaßen nicht immer. So mißlingt manchem Verfasser weitschweifiger autobiographischer Aufzeichnungen nicht nur der Versuch, eine letztgültige Darstellung seines Tuns zu geben. Auch die Bemühung, den eigenen Text als Quelle für Historiker glaubhaft zu machen und zu etabliern, stößt auf Vorbehalte. Historiographische Arbeiten - die gerne das Typische vom Untypischen scheiden - bleiben dem zeitgenössischen Streit um die geltende Definition verhaftet, wenn sie Verwaltungskategorien übernehmen und mit wissenschaftlichen Kategorien in eins setzen. Anhand popularer Autobiographik des 18. und 19. Jahrhunderts wird der Zusammenhang zwischen Repräsentationsarbeit, Bezügen auf zeitgenössische Diskursivierungen von Mobilität und historiographischen Konstruktionen untersucht.
Sozialversicherung und Vorsorgestaat

Montag, 3. Mai 1999, 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien

Nicht die Werke Mozarts, Beethovens und Goethes seien die größten Kulturleistungen der Neuzeit, sondern die Schaffung und vor allem das alltägliche Funktionieren des Sozialstaates sind es, meinte Hans Magnus Enzensberger noch vor wenigen Jahren.

Der Übergang vom Nachtwächterstaat des 19. Jahrhunderts hin zum modernen Sozialstaat war nicht nur von einer Intensivierung der alten kameralistischen und neueren statistischen Wissenschaften getragen; Industrie und Versicherungen entwickelten selbständig eigene Versicherungstechniken, die an die Stelle der Regeln der juristischen Haftung traten. Überwölbt wurden diese Dispositive durch einen Solidaritätsvertrag, der die Lebensrisiken sozia-lisierte und dem Staat gänzlich neue Aufgaben zuwies. Ihm oblag es nun, die moralischen Pflichten zu formulieren, denen ein jeder bis in die intimsten Bereiche seines Lebens nachzukommen hatte.

Das bürgerliche Leben mit seinen Rechtsbeziehungen wurde selbst zum Objekt des States, der zum Vorsorgestaat geworden war.

Zwischen wortlosen Bedeutungen und bedeutungslosen Worten.

Montag, 31. Mai 1999, 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien

Der Arroganz der Naturwissenschaften, die eigenen Möglichkeiten zur Weltbeschreibung (und -veränderung) betreffend, steht eine Arroganz von Literatur und Kunst gegenüber, die auf der Einschätzung ihrer Möglichkeiten zu einem "tieferen" Erfassen des Daseins beruht, als es Naturwissenschften je möglich wäre.

In dieser Situation wird die Poetik Peter Handkes neueren naturwissenschaftlichen Einsichten gegenübergestellt. Dabei wird argumentiert, warum ein expliziertes "Geheimnis des Daseins" für den Menschen ohne bedeutung sein könnte, und zwar unabhängig davon, ob dieses "Geheimnis" literarisch oder wissenschaftlich um- bzw. beschrieben wird.

Die Suche nach dem "Abgrund".
Ein heraldischer Blick auf Velázquez’ Las Meninas

Montag, 21. Juni 1999, 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien

Die Meninas von Diego Velázquez gelten seit ihrer Entstehung im 17. Jahrhundert als ein Gemälde voller Rätsel. Zu jeder Zeit machten sich Experten daran, Perspektive, Betrachterstandpunkt und die Bildseite der abgewandten Leinwand im Augenblick der Entstehungssituation zu rekonstruieren. Die weitgehend kunstgeschichtlichen Interpretationsansätze scheinen den komplexen Inhalt des Kunstwerks jedoch nur unzureichend zu erfassen.

Dem Denkanstoß Michel Foucaults folgend, soll den vielfältigen Überlegungen eine neue Nuance, die eines heraldischen Blickes, hinzugefügt werden.