Sektion Ästhetik
2002/2003

Madalina Diaconu Manifeste des Geschmacks oder Moralische Menüs
Walter Seitter Malerei war schon immer digital
Una Pfau Literatur und Kunst. Zur Buchillustration im 20. Jahrhundert
Rainer Hawlik und Hans-Georg Nicklaus Stein der Weisen, von innen betrachtet:
thecrystalweb.com
Cornelius Zehetner "Unliebsame Semiotik": Hugo Balls Dechiffrierungen
Dine Petrik "Jenseits von Anatolien".
Eine Reise ins Oströmische Reich
Wolfgang Brumetz Zum Problem der Interpretation bei Lacan
Gottfried Hinker Die absolute Grenze.
Unüberschreitbar, aber begehbar.
Karl Bruckschwaiger Recht als Wissenschaft bei Hans Kelsen
Dargestellt am Problem des Begriffs des Staates
Wilfried Gärtner Erlösung von der Metaphysik
Walter Seitter Pierre Klossowski - Übersetzer, Philosoph, Schriftsteller, Maler
Montag, 20. Oktober 2003, 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien
Manifeste des Geschmacks oder Moralische Menüs

„Die Welt ist eine Speisekarte, da heißt es bestellen und nicht verzweifeln. Dies ist der Grund der modernen Kondition“, schrieb Peter Sloterdijk 1994. Die Erlebnisgesellschaft hat demnach anscheinend das Interesse an der Gesellschaftskritik verloren und ist einem konsumistischen Anfall verfallen. Ein solches Gegenwartsbild ist zwar berechtigt, doch zugleich einseitig: Die Überflußgesellschaft hat sich mitnichten globalisiert, Hunger gibt es nach wie vor allerorts, und auch der vermeintlich apolitische und narzißtische Hedonismus der bon vivants koexistiert im Westen mit ethischen und politischen Ernährungsmustern. Zur Darstellung kommen in diesem Sinne Phänomene wie Hungerstreik (Proteste gegen eine als ungerecht empfundene sozialpolitische Ordnung), Anorexia nervosa (unbewußter Aufstand gegen Patriarchat und Ausdruck der Identitätskrise der modernen Frau), Vegetarismus (Verteidigung der Tierrechte im Namen einer kosmischen Solidarität aller Lebewesen), Lebensmittelmarken („gerechte“ Fürsorge des Staates in der Krise) und die Auseinandersetzung zwischen einer internationalen und einer regionalen Küche (Nahrungswahl nach dem Kriterium des Herkunftslandes). Alle diese Formen des Eßverhaltens fallen unter die Kategorie der sog. moral menus und stellen Alternativen sowohl zur genießerischen Gastronomie als auch zum Begriff der gegenwärtigen „Gastro-anomie“ dar.

Montag, 23. Juni 2003, 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien
Malerei war schon immer digital

"Digital" ist in aller Munde. Die exakte und komplexe Bedeutung des Wortes erschließt sich dem an Martin Heidegger und Fritz Heider geschulten Blick. Die digitale Struktur der Malerei liegt in ihrem vielteiligen-kleinteiligen Aufbau. Jedes "Mal" ist Ergebnis einer - mindestens einer - Entscheidung und Ausgangs-"Punkt" weiterer Entscheidungen. Multiple Dezisionistik.

Die Physik der Malerei - wie überhaupt die philosophische Physik - erweist sich als ein Weg, sich dem "Realen" (im Sinn von Jacques Lacan) von seinen beiden gewöhnlichen Aspekten (Körper, Ereignis) aus zu nähern (und es nicht von vornherein ins Undarstellbare zu mystifizieren (womit es ja ebenfalls dargestellt würde)).

Montag, 2. Juni 2003, 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien
Literatur und Kunst. Zur Buchillustration im 20. Jahrhundert

Die Buchillustration, deren Anfänge bis ins Mittelalter zurück-reichen, erhielt im 19. Jahrhundert neuen Aufschwung mit William Blake, dem Maler-Dichter. Von dieser Zeit bis Ende des 20. Jahrhunderts soll in meinem Vortrag die Geschichte der Buchillustration umrissen werden. Besonderes Gewicht soll dabei auf die Buchillustration im Kubismus und Surrealismus gelegt werden mit entsprechenden zu erläuternden Beispielen. Ein besonderes Merkmal der Buchillustration im 20. Jahrhundert ist, daß sie sich vom genauen Nachvollzug des Textes löst, vielmehr frei assoziativ wird. Dies zeigt sich namentlich auch an Beispielen der Buchillustration in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in dem die Buchkunst teilweise gar nichts mehr mit dem Text bzw. Textvermittlung zu tun hat, sondern ihren eigenen Wegen folgt.

Montag, 5. Mai 2003, 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien
Stein der Weisen, von innen betrachtet:
thecrystalweb.com

Rainer Hawlik und Hans-Georg Nicklaus stellen das von Wolfgang Pauser initiierte Internet-Projekt eines virtuellen Museums zur Diskussion

Wissen, als hypostasiertes Objekt verdinglicht, wurde im Zeitalter der Alchemie im Bild des Steins der Weisen, in der Idealitätsform des Kristalls beschrieben. Dieses spiegelnde Objekt, das realiter schier unauffindbar ist, läßt sich ins Prozessuale auflösen und zur Sprache bringen, sobald man sich in sein Inneres hineinversetzt. Dort fände man sich in einer abstrakten Ordnung vor, in einem kristallinen Raumgitter, in einem vernetzten Archiv, und man müßte sich zu bewegen beginnen. Der Silizium-Kristall, als technischer Speicher eines transitorischen Weltwissens, kann einen mehrdimensionalen Datenraum simulieren, in dem es jedoch keine Erstarrung eines Wissens zum Bestand, sondern nur Erkundungen, Reisen, Gedankensprünge und Assoziationsketten gibt ...

Dienstag, 8. April 2003: 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien
"Unliebsame Semiotik": Hugo Balls Dechiffrierungen

„Unliebsame Semiotik“ bezieht Hugo Ball (1886-1927) erstens, im medizinisch-therapeutischen Sinn, auf verunglückte Synthesen von Personalität und Maschinerien, auf atavistische und pathologische Spiel- und Maskenzüge, die den zivilisatorisch-zwischenmenschlichen Umgang behindern. Sie wird (über den Dadaismus hinaus) radikalisiert zu einer politischen wie geistesgeschichtlichen Genealogie und Kritik der Bedingungen kollektiver Strukturen. Dabei erhält Semiotik, zweitens, ein fundamentales Geschäft aufgebürdet: traditionelle ontologische Metaphysik (Substanz, Dauer, Widerstand) samt ihrer universalen Begründungsfunktion zu transformieren. Ball beansprucht dabei religionsphilosophisch symbolische Mystik, vierfachen Schriftsinn und eine den Menschen erweiternde Pneumatologie (Dämon-Engel-Gott), um Natur und Zivilisation gegen die je destruktiven Ausbrüche akut und selbstkritisch zu "deuten".

Montag, 17. März 2003: 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien
"Jenseits von Anatolien". Eine Reise ins Oströmische Reich

"Schwitzend und schnaubend stelze ich zwischen den Trümmern. Jeder Schritt löst hitzezerbrütete Staubwölkchen aus. Trostgedanken: Die Geschichte selbst kann es den Türken selbst auch nicht recht machen, angesichts dessen, was sich hier abgespielt hat, bevor sie kamen. Und angesichts ihrer Militärpolitik. Und ich, die so oft an die Grenzen dieser Geschichten stößt, die unglaublich und wahr sind, habe jetzt nicht aufzugeben, habe mir auszumalen, ob diese Mauertrümmer mehr römischen als griechischen Ursprungs sind. Der hektisch durchfurchte Polyglott gibt nichts her. Jedenfalls, wie auch sonst überall, sind zuletzt die Byzantiner vor Ort ..."

Montag, 20. Jänner 2003: 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien
Zum Problem der Interpretation bei Lacan

Die Faktizität des Menschen und das, was darüber hinausgeht, bilden bei Lacan eine dialektische Figur von Sprechen und Ausgesagtem, die dem Freudschen Unbewußten Rechnung trägt. Von der korrekten Auflösung dieser Dialektik im Konkreten der menschlichen Erfahrung hängt die Intervention des Analytikers und die Ausrichtung der Kur ab; ihre theoretische Formulierung steht allerdings immer noch zur Debatte.
Hier sollen Reversivität des Subjekts mit dem Anderen, Zusammengefaßtsein im und Selbstentäußerung des Sprechens und schließlich eine sanfte Dialektik als Elemente einer psychoanalytischen Interpretationslehre deutlich gemacht werden, welche einen Weg aus der universalen positivistischen Entfremdung weist.

Montag, 9. Dezember 2002: 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien
Die absolute Grenze.
Unüberschreitbar, aber begehbar.

Mehr als 20 Jahre sind vergangen, seit "Adventurkalender" einen charakteristischen Zusammenhang von Setzungen (feinstofflichen, grobstofflichen, hörbaren, sichtbaren, riechbaren, schmeckbaren, betastbaren, begehbaren) benennt.
Zwei dieser Setzungen sind grammatikalisch einfache Sätze und lauten:
Trachten trachten. Kuppeln kuppeln.
Sie gehören zu den Antworten auf die Frage, was wir sehen, wenn wir sehen: wir sehen den Horizont, sagen sie. Sie sagen noch mehr: wenn wir den Horizont sehen, und dieses Sehen aushalten, muss es der Horizont in uns sein, der den Horizont sieht: seine Grenze überschreitend findet er sich im Geschauten wieder. Das sehen wir, weil wir dieses sehen: die Trachten trachten nach dem Horizont, sie gehen auf ihn zu. Das tun sie, weil sie von ihm herkommen. Wir sehen also einen Horizont, der den Horizont sieht: dass wir das sehen und gemäß derselben Übung schließen, dass es die Grenze in uns ist, die das sieht, zeigt uns die Grenze als eine, die sieht, wie sie sich selber sieht. Das fällt, besser: schwebt, auf sie zurück, und wir könnten, in Schwung gebracht und warmgelaufen, fortsetzen, wollen aber noch einige andere gymnastische Variationen versuchen, da wir nicht wissen, ob uns das Warmlaufen ohne weiteres gelingt.
Uns erwarten daher: Eine Tracht und Kuppel Adventurkalender, trachtend und kuppelnd.

Montag, 25. November 2002: 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien
Recht als Wissenschaft bei Hans Kelsen
Dargestellt am Problem des Begriffs des Staates


Ein wissenschaftlicher Begriff des Staates ist für Kelsen ein bloß juristischer. Dieser läßt sich aber nur gewinnen, wenn man das juristische Denken über den Staat von den naturrechtlichen Einmischungen befreit. Das führt Kelsen zu einer Auseinandersetzung mit dem Willensproblem des Staates, denn der Begriff des Willens führt eine psychologische und eine soziologische Bedeutungskomponente mit sich. Um diese soll der juristische Begriff des Willens reduziert werden, um damit die spezifische Einheit des Staates zu verstehen. Dass Psychologie und Soziologie zu anderen Einheiten gelangen werden, davon überzeugt sich Kelsen durch eine recht ausführliche Beschäftigung mit Sigmund Freuds Massenpsychologie und Emile Durkheims Regeln der Soziologie. Dass der Wille auch nicht am Anfang des Staates stehen kann, wird uns die Auseinandersetzung Kelsens mit seinem Lehrer Georg Jellinek zeigen. Sonst fielen ja Staat und Rechtsordnung auseinander, was aber nicht sein kann.
Montag, 11. November 2002: 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien
Erlösung von der Metaphysik

Neuere Diskussion um Selbstorganisation und Evolution weisen einen Weg, wie aus den festgefahrenen aktuellen Diskussionen herauszukommen ist. In Kürze: Ökosphären haben eine hohe Stabilität und können einiges an Schwankungen puffern. Erst wenn ein Schwellenwert überschritten wird, destabilisiert sich eine Ökosphäre, bis sich im Durchgang durch starke Turbulenzen ein neuer Gleichgewichtszustand einstellt. Dabei verschwinden etliche Arten und neue bekommen eine Chance.
Der Vortrag wird die Hypothese diskutieren, daß die heutigen Menschen in einer solchen Phase entstanden sind und noch ihren Platz in einem neuen Gleichgewichtszustand, den sie wesentlich mitkonstituieren, suchen. Die damit einhergehende existenzielle Unsicherheit wurde bisher durch metaphysische Konstruktionen erträglich gemacht. Erstmals in den Evangelien wurde mit der Erinnerung an die Zukunft ein Horizont eröffnet, diese Probleme zu bearbeiten. In der geheilten Welt, in der sich alle Bezüge in ihrer vollen Komplexität entfaltet haben werden, wird aus dem sog. Übernatürlichen (vom heutigen unternatürlichen Bewußtsein aus gesehen) ein natürlicher Zustand ohne Metaphysik werden.
Montag, 21. Oktober 2002: 19.30 Uhr
Lehrkanzel für Kommunikationstheorie
Postgasse 6
1010 Wien
Pierre Klossowski - Übersetzer, Philosoph, Schriftsteller, Maler

Pierre Klossowski (1905-2001) war ein äußerst heteromorpher Autor. Heterogen war auch seine Herkunft: zwischen den Staaten, zwischen den Städten. Seine intellektuellen Beziehungen reichten von André Gide und Rainer Maria Rilke, Georges Bataille und Walter Benjamin bis zu Jacques Lacan, Michel Foucault, Gilles Deleuze und Rémy Zaugg.

Sein Lebensthema war die Frage, wie man sich - angesichts der europäischen Moderne und mit den europäischen und anderen Vormodernen im Rücken - in der Gegenwart orientieren könne: als Leser, als Autor, als „Subjekt“ - oder wie er sagt: als „Suppost“. Seine wichtigsten „Autoritäten“: heidnischer Polytheismus, christliche Kirchenväter, Charles Fourier ...